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Eine Stimme aus der Stille

Eine Stimme aus der Stille

Eine Stimme aus der Stille

NACH einer ganz normalen Schwangerschaft brachte ich Hillary zur Welt. Allem Anschein nach war sie kerngesund. Allerdings hatte sie eine Spalte im weichen Gaumen. Der Arzt sagte, diese Art Gaumenspalte lasse sich im Alter von etwa zwei Jahren relativ leicht operieren. Das einzige Problem war, dass ich Hillary nicht stillen konnte, da sie Schwierigkeiten beim Saugen hatte.

In den ersten drei Monaten musste ich sie also füttern. Doch mit vier Monaten gelang es ihr irgendwie, die Nasenflügel zusammenzuziehen und dadurch einen ausreichenden Sog aufzubauen. Ich war heilfroh, dass ich sie jetzt doch stillen konnte. Hillary nahm zu und schien sich ganz normal zu entwickeln. Sie konnte greifen, Laute von sich geben und sitzen.

Rätselhafte Symptome

Als Hillary ins Krabbelalter kam, wunderte ich mich, dass sie immer nur sitzend auf dem Boden hin und her rutschte. Anscheinend hatte sie gar keine Lust, auf allen vieren zu krabbeln. Das war mir ein Rätsel, weil Lori, meine große Tochter, sich in diesem Alter ganz anders verhalten hatte. Von anderen Müttern erfuhr ich aber, dass manche völlig gesunde Kinder überhaupt nie krabbeln. Das beruhigte mich dann wieder.

Mit ungefähr einem Jahr konnte Hillary nur ein paar Wörter sagen. Irgendwie kam mir das komisch vor, aber es lernen ja nicht alle Kinder gleich schnell sprechen. Hillary wollte auch nicht stehen oder laufen. Der Kinderarzt meinte, sie hätte Plattfüße. In den Monaten danach blieb alles wie gehabt.

Wir gingen wieder zu dem Kinderarzt. Diesmal sagte er, Hillary sei einfach nur ein bisschen faul. Doch mit 18 Monaten machte sie immer noch keine Anstalten zu laufen und hatte die wenigen Wörter, die sie bereits kannte, verlernt. Ich rief den Kinderarzt an und sagte ihm, mit meiner Tochter sei definitiv etwas nicht in Ordnung. Er schickte mich zu einem Neurologen, der mehrere Tests in die Wege leitete. Unter anderem ließ er ein Elektroenzephalogramm (EEG) machen. Dabei wird die Gehirntätigkeit überprüft. Das EEG ergab Anzeichen für epileptische Anfälle. Der Neurologe sprach außerdem von äußerlichen Merkmalen wie hellbraunen Hautflecken und Auffälligkeiten an den Augen, die auf eine neurologische Störung hindeuteten. Es lag auf der Hand, dass mit Hillary etwas nicht stimmte, doch der Neurologe konnte keine eindeutige Diagnose stellen.

Von den epileptischen Anfällen hatte ich nie etwas gemerkt. Dafür waren andere Probleme umso offensichtlicher. Hillary hatte fast jeden Tag Schreiattacken. Dagegen half nur, sie mit dem Auto durch die Gegend zu fahren und ihr etwas vorzusingen. Das machte ich so oft, dass sich die Nachbarn schon wunderten, warum wir ständig an ihren Häusern vorbeifuhren.

Im zweiten Lebensjahr fing Hillary damit an, ihre Hände in rhythmischen Bewegungen immer und immer wieder zum Mund zu führen. Das tat sie irgendwann fast pausenlos. Sie hatte auch eine Phase, in der sie kaum schlief. Ab und zu machte sie ein Mittagsschläfchen, war dann aber die ganze Nacht wach.

Hillary liebte Musik. Sie konnte sich stundenlang Musiksendungen für Kinder anschauen. Die neurologischen Störungen wurden allerdings nicht besser. Es kamen noch Probleme mit der Atmung hinzu: Einerseits atmete sie oft viel zu schnell, andererseits hielt sie manchmal so lange den Atem an, dass ihre Lippen blau anliefen. Das machte mir Angst.

Wir versuchten es mit Medikamenten gegen Epilepsie, die aber starke Nebenwirkungen zu haben schienen. Daraufhin liefen wir von Pontius zu Pilatus, ließen alle möglichen Tests machen, wechselten von Schulmedizin zu alternativer Medizin und gingen zu den verschiedensten Spezialisten. Doch an eine Diagnose war nicht zu denken, geschweige denn an Heilung.

Des Rätsels Lösung

Als Hillary ungefähr fünf Jahre alt war, las eine Freundin von mir in der Zeitung über ein Mädchen, das an einer relativ unbekannten genetischen Krankheit litt, dem Rett-Syndrom. Da sie wusste, dass Hillary ähnliche Symptome aufwies, schickte sie mir den Artikel.

Daraufhin suchten wir einen Neurologen auf, der sich mit dieser Krankheit auskannte. Anfang der 1990er-Jahre war man sich ziemlich sicher, dass es sich bei dem Rett-Syndrom um eine genetische Krankheit handelte, weil sie vorwiegend bei Mädchen auftrat. Der genetische Marker war allerdings noch nicht entdeckt worden und es gab viele ähnliche Symptome wie bei Autismus oder Gehirnlähmung. Man konnte das Rett-Syndrom also nur aufgrund der Symptome diagnostizieren. Bei Hillary waren fast alle vorhanden. Der Neurologe bestätigte den Verdacht, dass sie am Rett-Syndrom litt.

Ich las über diese Krankheit alles, was ich in die Finger bekam. Das war damals allerdings nicht gerade viel. Wie ich erfuhr, tritt das Rett-Syndrom bei einem von 10 000 bis 15 000 Mädchen auf. Für die Krankheit gibt es weder eine spezielle Therapie, noch ist sie heilbar. Was ich lieber nicht erfahren hätte, war, dass ein kleiner Prozentsatz der Mädchen aus unerklärlichen Gründen stirbt. Etwas anderes beruhigte mich dagegen bis zu einem gewissen Grad: Es ging dabei um Apraxie. Im Rett Syndrome Handbook heißt es: „Apraxie ist die Unfähigkeit, richtige Bewegungen auszuführen. Sie ist die auffälligste Behinderung beim Rett-Syndrom und betrifft die gesamte Motorik, auch die Sprache und den Blick. Mädchen mit dem Rett-Syndrom können sich zwar bewegen, sind aber nicht in der Lage, ihrem Körper zu sagen, wann und wie er sich bewegen soll. Der Wunsch, sich zu bewegen, ist wahrscheinlich da, aber die Fähigkeit dazu fehlt.“

Warum mich das ein wenig beruhigt hat? Weil Apraxie nicht die Intelligenz beeinträchtigt, sondern nur verhindert, dass man sie erkennt. Ich hatte schon immer das Gefühl, dass Hillary alles mitbekommt, was um sie herum vorgeht. Doch durch die fehlende Kommunikation ist das schwer nachzuweisen.

Da sich Apraxie auf die Motorik und die Sprache auswirkt, hat Hillary das Sprechen und Laufen verlernt. Sie hat epileptische Anfälle, eine Wirbelsäulenverkrümmung und knirscht mit den Zähnen. All das ist typisch für das Rett-Syndrom.

Eine echte Hoffnung

Inzwischen hat man das verantwortliche Gen entdeckt. Es ist ein kompliziertes Gen, das an der Steuerung anderer Gene beteiligt ist und sie abschaltet, sobald sie nicht mehr gebraucht werden. Man arbeitet fieberhaft daran, eine Therapie zu finden mit dem Ziel, die Krankheit eines Tages vielleicht sogar heilen zu können.

Hillary ist inzwischen 20. Sie muss gefüttert, angezogen, gewaschen und gewindelt werden. Obwohl sie nur etwa 45 Kilo wiegt, ist es nicht leicht, sie zu heben. Lori und ich benutzen eine elektrische Hebevorrichtung, um sie aus dem Bett oder der Badewanne zu hieven. Ein guter Bekannter hat Rollen an ihren Sessel montiert, sodass man ihn unter die Hebevorrichtung schieben und sie hineinsetzen kann.

Leider können wir Hillary nur selten mit in den Königreichssaal nehmen. Das bedeutet aber nicht, dass wir auf unsere christlichen Zusammenkünfte verzichten müssen. Wir können sie über Telefon mitverfolgen. Lori und ich bleiben abwechselnd bei Hillary. So kann immer eine von uns in den Königreichssaal gehen.

Hillary ist trotz ihrer Behinderung ein nettes, fröhliches Mädchen. Wir lesen ihr gern aus Mein Buch mit biblischen Geschichten und Lerne von dem großen Lehrer vor. * Oft sage ich ihr, dass Jehova Gott sie sehr liebt und sie bald gesund machen wird und dass sie mir dann endlich alles sagen kann, was sie auf dem Herzen hat.

Man kann schwer feststellen, wie viel Hillary versteht, weil die Kommunikation so problematisch ist. Doch es ist erstaunlich, was sie mit einem einzigen Blick, einem Augenzwinkern oder mit einfachen Lauten alles ausdrücken kann. Ich sage ihr oft, dass Jehova genau weiß, was sie sagen möchte, auch wenn ich sie nicht immer richtig verstehe (1. Samuel 1:12-20). Mit der Verständigungsmethode, die wir im Lauf der Jahre entwickelt haben, hat sie mir zu verstehen gegeben, dass sie tatsächlich mit Jehova redet. Ich freue mich so sehr auf Gottes Königreich, auf die Zeit, in der „die Zunge des Stummen . . . jubeln“ wird (Jesaja 35:6). Dann kann auch ich Hillarys Stimme hören. (Erbetener Beitrag.)

[Fußnote]

^ Abs. 22 Beide Bücher werden von Jehovas Zeugen herausgegeben.

[Herausgestellter Text auf Seite 19]

Hillary führte ihre Hände in rhythmischen Bewegungen immer und immer wieder zum Mund

[Herausgestellter Text auf Seite 19]

Sie atmete oft viel zu schnell oder hielt den Atem an

[Herausgestellter Text auf Seite 20]

„Der Wunsch, sich zu bewegen, ist wahrscheinlich da, aber die Fähigkeit dazu fehlt“ (The Rett Syndrome Handbook)

[Herausgestellter Text auf Seite 21]

Ich sage ihr oft, dass Jehova genau weiß, was sie sagen möchte

[Kasten auf Seite 21]

SYMPTOME DES RETT-SYNDROMS

Nach den ersten 6 bis 18 Lebensmonaten macht ein Kind mit Rett-Syndrom irgendwann auf allen Gebieten Rückschritte.

□ Zwischen dem 4. Lebensmonat und dem 5. Lebensjahr ist das Kopfwachstum verlangsamt.

□ Verlust der Handmotorik.

□ Verlust der Sprache.

□ Stereotype Handbewegungen wie Klatschen, Trommeln und Kneten. Typisch sind auch Bewegungen wie beim Händewaschen und/oder dass die Hände immer wieder in den Mund genommen werden.

□ Sofern das Kind überhaupt laufen lernt, ist der Gang steif mit weit gespreizten Beinen. Mit den Jahren können sich das Laufen und die Motorik immer weiter verschlechtern.

□ Auffälligkeiten bei der Atmung: Luftanhalten (Apnoe) oder zu schnelles Atmen (Hyperventilation).

□ Epileptische Anfälle, weil im Gehirn unkontrolliert elektrische Impulse abgefeuert werden. Die Anfälle an sich sind nicht unbedingt schädlich.

□ Skoliose, eine seitliche Verkrümmung der Wirbelsäule.

□ Manche Mädchen knirschen mit den Zähnen.

□ Die Füße sind klein und schlecht durchblutet. Manchmal sind sie deswegen eiskalt und/oder geschwollen.

□ Die Mädchen sind in der Regel für ihr Alter zu klein und zu leicht. Manche sind reizbar, haben Schlafstörungen, Probleme beim Kauen und Schlucken und/oder zittern stark, wenn sie aufgeregt sind oder Angst haben.

[Nachweis]

Quelle: International Rett Syndrome Association